Km ۸۸۴۴ - Km ۹۰۲۲_Yasuj - Shiraz
Das Getrommel mit dem Gesang, das die Feierlichkeiten der nächsten Tage ankündigt schallt noch bis spät abends in unser Zimmer. Mitten in der Nacht wird unsere Hotelzimmertür geöffnet. Mike ist schlagartig wach. Er horcht. Nichts. Ist da jemand ins Badezimmer geschlichen? Leise tappt er sich nach vorne – auf das Schlimmste vorbereitet – und späht hinter den Duschvorhang. Nichts. Der Eindringling ist bereits wieder weg und Cynthia schläft noch immer tief und fest. Wahrscheinlich war es ein Hotelangestellter, der sich eine Mütze Schlaf holen wollte. Leider im falschen Zimmer. Zur Sicherheit werden ein paar Packtaschen vor die Balkon- und Zimmertür gestellt. Never know.
Das Hotel an sich hat - so wie die meisten hier im Iran – nicht so ganz den Standard, den man so aus Europa kennt. Dieses hier steht mitten in einer Baustelle, es hat Risse in der Wand, die Fugen im Badezimmer sind nicht richtig angelegt, die Toilette läuft über, der Boden ist schmutzig, die Bettdecke hat Löcher und das Frühstücksbuffet ist leer bevor das Frühstück überhaupt eröffnet ist. Aber hey, wer will es denn so eng sehen. Immerhin hat es vier Sterne und kostet auch so viel wie vier Sterne. Damit man sich den Luxus wenigstens vorstellen kann.
Ab heute folgen wir der Strasse Nummer 67. Zuerst aber einmal geht es zum Einkaufen. Auch hier begegnet uns ein regionales Phänomen. Nicht beim ersten Kunden wird zuerst einkassiert, sondern beim lautesten. Kassen hat es so gut wie nie, meistens nicht einmal ein Taschenrechner. So rechnet also der Verkäufer im Kopf den Verkaufspreis aus. Kurz bevor er es geschafft hat, kommt ein weiterer Kunde und redet auf ihn ein. Der Verkäufer spricht nun mit Kunde Nummer zwei. Will er sich wieder dem Kunden Nummer eins zuwenden, muss er erneut mit dem Rechnen beginnen, denn die Zwischensumme hat er im Gewusel vergessen. So kann es jeweils laaaange dauern vom Moment an, wo man die Produkte auf die Theke legt, bis zu dem Moment wo man mit einer gepackten Tasche den Laden verlassen kann. Geduld ist hier gefragt.
Es ist schon ziemlich später Vormittag, als wir die Stadt in Richtung Natur verlassen. Auch heute bewältigen wir einige Höhenmeter. Es geht gemächlich. Cynthia ist nicht so im Strumpf und darum lassen wir uns Zeit. Wir schieben unsere Räder auf über 2‘400 Meter, geniessen feine Hühnerbrühe und lassen uns danach wieder runter gleiten.
Unterwegs begegnet uns das erste Wohnmobil seit langem. Und dann noch eins und noch eins und noch eins. Insgesamt sechs Holländische Wagen rollen an uns vorbei. Wir ergattern drei Winker. Nicht ganz so viel wie wir erhofft haben. Aber was soll‘s.
Wieder einmal werden wir gefilmt. Ein junger Mann steht mit seinem Tablet vor uns und nimmt alles auf, was wir so machen. Er fragt uns über alles Mögliche aus und ist ein richtig lustiger Kerl. Schön, dass man mal wieder englisch sprechen kann. So weiss man wenigstens auch mal worum das Gespräch sich dreht. Jedenfalls lacht der Typ die ganze Zeit und das ist ansteckend. Als er dann erfährt, dass wir nach zehn Jahren noch immer keine Kinder haben, platzt er beinahe. Schallendes Gelächter. Der Kerl kriegt sich kaum ein und es schiessen ihm Tränen in die Augen. Gross erklären von wegen Kulturunterschied und so lohnt sich hier nicht. Wir lachen einfach mit. Der Moment ist so köstlich. Wir werden eingeladen, mit ihm und seiner Familie einen Tag in Shiraz zu verbringen. Mal sehen, ob das klappt.
An einer Tankstelle stocken unsere Getränkereserven auf und lassen unser Tupperware mit Reis auffüllen. Den Reis kriegen wir geschenkt. Danke. Sowieso kriegen wir heute immer wieder Geschenke von hier und dort. Wir freuen uns zwar jedes Mal, doch es ist schon irgendwie komisch. Man kann einfach nicht nein sagen. Die Menschen sind total enttäuscht, wenn man ablehnt. Die Sache ist einfach so, dass man nicht einen oder zwei Äpfel bekommt, nein es sind immer gleich zwölf aufs Mal. Einmal hatten wir schon gute fünf Kilo Äpfel auf dem Packträger, als ein Bauer uns noch zehn Stück schenken wollte. Wir lehnten ab. Er war enttäuscht. Also baten wir an, zwei Äpfel zu nehmen und gaben ihm den Rest wieder zurück. Daraufhin wurde er so wütend, dass er mit den Äpfeln nach uns schmiss. Hmm. Also nun ist da schon die Frage, was wir tun sollen. Dass wir die Äpfel niemals alle aufessen können liegt auf der Hand. Dass die Bauern mehr davon haben, wenn sie sie verkaufen würden auch. Aber die Enttäuschung der Geber ist zu gross, wenn wir ablehnen. Und das Strahlen in ihren Gesichtern zeigt uns, dass es ihnen überaus wichtig ist, uns etwas Gutes zu tun. So nehmen wir die Geschenke an, fahren einige Kilometer, sortieren aus, fahren weiter. So geht das den ganzen Tag. Es tut uns richtig Leid wegen den Lebensmitteln. Aber wir sehen keine andere Möglichkeit. Ab und zu gelingt es uns, jemandem die Produkte weiter zu verschenken. Doch meistens lassen wir sie am Strassenrand stehen und hoffen, dass sie in gute Hände oder Pfoten kommen.
Heute haben wir nicht einmal sechzig Kilometer geschafft. Aber immerhin über 1‘000 Höhenmeter. Das Wetter ist nicht stabil und es sieht nach Regen aus. Wir befinden uns gerade auf einer schmalen Strasse, direkt oberhalb einer tiefen Schlucht. Das Gewitter kommt näher. Ein Schlafplatz muss her. Aber bitte nicht zu nah am Abhang. In der allerletzten Sekunde entdeckt Mikes Spürnase eine flache Ebene, die nicht rutschgefährdet wirkt. In Windeseile stellen wir das Zelt auf und richten uns ein. In allerletzter Sekunde schaffen wir es ins Trockene. Das Gewitter kommt. Es blitzt und donnert wieder einmal direkt über unseren Köpfen. Einige Stunden hält das Unwetter an. Wir schlafen trotzdem ganz entspannt.
Jaja der Regen. Zwar hat er aufgehört, aber eben auch seine Spuren hinterlassen. Wir stecken wieder einmal im Schlamm fest. Dass das passiert, war uns schon gestern klar aber da war es halt wichtiger, uns vor dem Gewitter zu schützen. Um die zwanzig Meter bis zur Strasse zurückzulegen, die Räder zu entschlammen und uns zu erholen benötigen wir über eine halbe Stunde. Phuu. Übrigens ist jetzt auch noch Cynthias Packtasche kaputt. Schraube weg. Aufhängung zerschlissen. Einfach so. Ach, das ist schon richtig, richtig ärgerlich. Wir sind gar nicht zufrieden mit diesen Produkten. Aber wir werden versuchen auf dem nächsten Bazar oder spätestens dann in Dubai alles wieder herzurichten.
Die Strasse führt wider Erwarten immer noch Berg hoch. Wir passieren Ardakan. Bei einer Pause gesellt sich ein Mann zu uns. Er spricht nicht, steht nur da. Wir geben ihm Erdnüsse. Etwa zehn Minuten dauert die Szene. Er guckt uns einfach nur an. Irgendwann schnappt er sich eine von Cynthias Zigaretten. Ok. Er bleibt weiter stehen. Ein anderes Auto lenkt ihn ab, es scheint was spannenderes passiert zu sein. Jedenfalls winkt uns der Mann zu und rennt schnell schnell zum anderen Auto. Wir sind wieder alleine. Whatever.
Wie schon erwähnt, kommt gerade der Trauermonat zu seinem Höhepunkt. in Ardakan treffen wir auf eine grosse Truppe – an die 200 Männer und Jungs – die im Rhythmus der Trommeln und dem hypnotischen Gesang sich in einer perfekten Synchronie jeweils mit einer Geissel aus dutzenden von Kettenelementen auf den Rücken schlagen. Sehr beeindruckend und irgendwie auch gruselig.
Immer wieder passieren wir auf unserer Bergstrecke die Barracken des roten Kreuzes. In einigen Blogs haben wir gelesen, dass man hier umsonst schlafen kann. Das rote Kreuz ist ja für alle da. Wir haben Mühe, hier Verständnis für diese Radfahrer aufzubringen. Nun fährst du hier durch ein Land, in dem die Menschen offensichtlich weniger haben zum Leben als du zuhause. Sie sind auf das rote Kreuz angewiesen. Dieses ist so bescheiden eingerichtet, dass es nicht einmal für ein Fundament oder eine Isolierung reicht. Und dann kommt man als Radler so daher und denkt sich: „ach, komm. Die sind ja da. Lass mich das in Anspruch nehmen. Umsonst. Die dürfen mich ja nicht wegschicken.“ Unglaublich. Das rote Kreuz ist für Hilfesuchende und bedürftige Menschen da. Für solche, denen es nicht so gut geht. Nicht für sparsame Radler, die keine Lust darauf haben, ihr Zelt aufzustellen oder in ein – zugegeben überteuertes – Hotel einzuchecken. Also wirklich. Scho bitz piinlech.
Nach kurzen Abfahrten geht es weiter den Berg hoch. Seit sieben Tagen strampeln wir schon bergwärts. Langsam hängt es echt an. Bei einer Tankstelle stehen wir vor einem geschlossenen Restaurant. Dann kochen wir eben selber. Gleich hier. Aber noch bevor wir anfangen zu brutzeln, kommt ein Mann daher geeilt. Er bringt uns eine Schale mit Reis und Poulet. Wir bekommen es im Rahmen des Ashura Festes in Gedenken an den Imam Husain Ali. Dankeschön. Wir schenken dem Mann ein paar Nougat und stecken ein Batzi in eines der unzähligen Kasseli, die man überall am Wegesrand und vor jeder Mosche findet. Das Geld kommt schlussendlich bestimmt den Armen zugute.
Mit vollem Bauch fahren wir weiter. Nach wenigen Kilometern hält eine Familie an und übergibt uns eine grosse Menge an Essen. Wir wollen ablehnen, haben aber keine Chance. Es bricht uns das Herz. Das Essen bringen wir auf keinen Fall mehr rein und die Packung ist nicht transportfähig. Wir machen uns Sorgen um unser Karma. Hoffentlich freut sich der eine oder andere Coyote über das Festmahl. Wir kriegen noch kiloweise Äpfel, Trauben, Süssigkeiten und kommen schwer beladen und voller schlechtem Gewissen am Nachmittag auf dem höchsten Punkt an.
Noch vierzig Kilometer bis nach Shiraz. Wir treten kräftig in die Pedale, denn ein wilder Schlafplatz ist hier in der Agglomeration nicht zu finden. An einer Tankstelle rufen wir in einem Hotel an. Ausgebucht. Wir fahren aufs Geratewohl weiter. Das Hotel, das wir zwanzig Kilometer vor Shiraz ansteuern ist noch ein Rohbau. Fluechfluech. Wir sind müde. Eine Familie bietet ihre Hilfe an. Wir könnten ihnen in ihr 30 Kilometer entferntes Zuhause folgen und da etwas ausruhen. Anschliessend könnten wir frisch gestärkt in die dann 50 Kilometer entfernte Stadt fahren. Megalieb gemeint, aber nein danke. Lustig, wie schwach hier das Distanzgefühl ausgebreitet ist.
In vierzig Minuten geht die Sonne unter. Wir geben alles. Vollgas. Wir fahren so verbissen, dass wir die 9‘000er Hürde nicht einmal wahrnehmen. Das erste Hotel ist gefunden. Megateuer. Wir fahren weiter. Das zweite Hotel ist gefunden. Auch teuer, aber naja. Wir checken ein und sind gefrustet. Die Anstiege von 5'044 Höhenmeter, die Müdigkeit, der Stress der letzten Stunden, die seit Tagen aufgerissenen, blutenden Lippen, das ewige angehalten werden, das Geplauder in einer Sprache die wir nicht verstehen und die Hotelsuche haben ihr übriges getan. Es häscheret. Aber so richtig. Nach ein paar Stunden Frustabbau kriegen wir uns wieder ein. Wir buchen von hier aus ein günstiges Hostel für die nächsten zwei Nächte und versuchen zu schlafen. Das Hotel steht direkt neben der Mosche. Es wird getrommelt und gesungen bis um Mitternacht. Danach ist Ruhe. Wir schlafen gut.